Sie krochen über ihren Körper, fett, kalt und schillernd. Sie umschlangen, pressten und knebelten ihn, während ihre langen Zungen in jede Öffnung schnellten, ein einzigartiger Tanz des Ekels. Als sie keine Luft mehr bekam, schrie sie. Davon wachte sie auf. Ihr Nachthemd klebte feucht an ihren Schenkeln. Sie fröstelte. Während sie die Daunendecke enger um ihren Leib wickelte und auch ihren Kopf darin vergrub, lauschte sie angestrengt. Endlich! Eine Tür fiel ins Schloss.

Christina riss sich die Schlafmaske von den Augen und blinzelte in das grelle Licht des anbrechenden Sommertages. Ihr Mann hatte die schützenden Vorhänge aufgezogen, bevor er gegangen war. Eine typische Boshaftigkeit von ihm. Sie stand auf, zog die Vorhänge zu und schlief wieder ein.

Gegen zehn Uhr erwachte sie ein zweites Mal. Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, warum sie geschrien hatte. Edgar dominierte sogar ihre Träume – schillernd, kalt und luftraubend.

Sie blieb noch eine Weile liegen und dachte über diese Erkenntnis nach. Gerne hätte sie diesen Tag im Bett zugebracht, ein Luxus den sie sich gönnte, wenn Edgar geschäftlich unterwegs war. In letzter Zeit war er häufig unterwegs.

An diesem Tag allerdings sah sie sich gezwungen, auf dieses Vergnügen zu verzichten. Das traditionelle Sommerfest der Mastorn Software verlangte nach ihrer Anwesenheit. Was für eine Verschwendung ihrer Ressourcen! Einmal mehr würde sie in die Rolle der eloquenten und eleganten Gattin eines smarten Managers schlüpfen. Dabei würde sie darauf achten, der Frau des Mastorn-Gottes nicht die Show zu stehlen. Noch harrte Edgar im zweiten Glied der Hackordnung.
Früher liebte Christina derlei Veranstaltungen. Sie beherrschte die große Gala, verstand es, sich herauszuputzen und den Neid ihrer Geschlechtsgenossinnen zu erregen. Jetzt sah das anders aus. Je näher ihr Auftritt rückte, desto stärker erfasste sie die Furcht zu versagen, den hohen Ansprüchen ihres Mannes nicht zu genügen, wie er es ausdrücken würde. ´Versagen´ war eines seiner Lieblingswörter, er gebrauchte es oft, wenngleich nie in Zusammenhang mit seinen eigenen Leistungen. Auf öffentlichem Parkett hatte sie ihn selten enttäuscht, das räumte sogar er ein.

Dieses Mal hatte sie sogar noch mehr Angst als sonst. Das Unbehagen schrieb sie dem morgendlichen Alptraum zu, der ihr wie ein Menetekel erschien.

Es half wenig, dass sie sich einzureden versuchte, das Kriecher-Festival der Mastorn-Stallwache sei eine regelmäßig wiederkehrende Strafe, vergleichbar ihrer ehelichen Pflicht, die zwar öfter stattfand, dabei aber weit weniger unterhaltsam war.
Lustlos quälte sie sich aus dem Bett und schlüpfte in ihr Negligé, das auf einem Stuhl bereit lag. Im Bad ließ sie heißes Wasser in die Wanne laufen. Der Geruch Ihres Mannes hing noch schwach im Raum – After Shave, gepaart mit Männlichkeit. Beides verabscheute sie. Sie riss das Fenster auf und sog kühle Morgenluft ein. Als sie sich über das Waschbecken beugte, bemerkte sie, dass Edgars dunkelblonde Haare und weiße Schaumreste den Ausguss verstopften. Der Anblick löste Übelkeit in ihr aus. 'Im Grunde würge ich meinen ganzen Widerwillen gegen dieses verdammte Leben heraus', dachte sie wutentbrannt, während sie keuchend über der Toilette hing und sich erbrach. Sie spülte lange, streifte sich Gummihandschuhe über ihre makellos manikürten Hände und begann das Bad mit der ihr eigenen Gründlichkeit zu reinigen. Dabei fiel ihr auf, dass ihre Zugehfrau das Wort ´Gründlichkeit´ offenbar anders interpretierte, als ihre Arbeitgeberin. Unter dem Waschtisch boten Staub, Papiertücher und klebrige Kosmetikreste einen abstoßenden Anblick. Warum hatte Christine das nie bemerkt? Sie band sich ein Tuch um den Mund und holte Eimer, Bürsten und Desinfektionsmittel aus der Besenkammer. Einen erneuten Brechreiz unterdrückend, wischte sie jede Ecke des Badezimmers, bis der letzte Rest Schmutz getilgt war. Danach stellte sie mit Genugtuung fest, dass der Duft ihres Mannes final dem beißenden der Reinigungsmittel gewichen war.

Ein erster Anflug von Panik befiel sie, als sie auf die Uhr sah. Wie sollte sie all das schaffen, was sie sich vorgenommen hatte? Vielleicht ein paar Programmpunkte streichen? Nein, das kam nicht in Frage. Sie würde auf das Frühstück verzichten und mit dem Taxi in die Innenstadt fahren und sich die zeitraubende Parkplatzsuche sparen. Management war eben alles, Edgar sei Dank.

Das Wasser war nur noch lauwarm, als sie in die Wanne stieg. Erschöpft lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und gab sich ihren Gedanken hin, die immer das gleiche Thema umkreisten.

Wann hat das alles angefangen? Was hatte sie falsch gemacht? Warum hatte Edgar aufgehört, sie zu lieben? Oder hatte er sie nie geliebt? Warum konnte sie sich nicht lösen von ihm, obwohl er so grausam zu ihr war? Manchmal war sie so angewidert von ihm und dann wieder wünschte sie sich nichts so sehr, wie seine Anerkennung und etwas Zuwendung. ´Ein wenig nur´, dachte sie und spürte salzige Tränen über ihre Wangen laufen. Sie ließ heißes Wasser nachlaufen und wusch sich im Schnellgang. Abschließend duschte sie sich eiskalt ab und fühlte sich schlagartig besser.

Ein Blick in den Spiegel dämpfte ihre Laune erneut. Dunkle Schatten zeichneten sich unter ihren verquollenen Augen ab und von den Mundwinkeln zogen sich kleine Furchen bis zum Kinn. Sie sah bitter damit aus und kam sich plötzlich alt und verbraucht vor. Dabei war sie gerade einmal Mitte dreißig und wurde alles andere als gebraucht. Sie eilte in die Küche und fischte Eiswürfel aus dem Kühlschrank, die sie auf die Spuren demütigender Erfahrungen platzierte. Ein weiterer Zeitverlust!

Während sie auf dem Sofa liegend auf die Wirkung der kalten Maßnahme wartete, sinnierte sie erneut über ihr missglücktes Dasein.

Sie wusste, dass sich das wenige, was sie an Ehrgeiz besaß, auf die Konservierung ihres Aussehens beschränkte. Dieser Aufwand beinhaltete regelmäßige Besuche eines Fitness-Studios und disziplinierte Nahrungsaufnahme. Sie hatte schlanke Beine, einen flachen Bauch und üppige Brüste, die nicht mehr so straff wie früher waren. Was soll's, dachte sie sarkastisch, es sieht sie ja sowieso niemand außer Edgar. Ihre Proportionen verstand sie vorzüglich in bestes Licht zu rücken. Christinas Physis war offenbar das einzige, was ihr Mann noch an ihr mochte. Aber vielleicht irrte sie auch in diesem Punkt.

Während sie darüber brütete, kam ihr der Gedanke, dass es eigentlich besser war, sich ein wenig gehen zu lassen. Dann würden die Komplimente ausbleiben, die Edgar brauchte, wie Junkies ihren nächsten Schuss. Noch erstrebenswerter erschien ihr die Aussicht, von ihm in Ruhe gelassen zu werden. Diese Überlegungen beschäftigen sie immer noch, als sie erneut im Spiegel ihr Gesicht begutachtete. Christine schaffte es sogar, ihr Gegenüber - das nun deutlich frischer wirkte - anzulächeln. Abrupt wandte sie sich ab und kehrte in die Realität zurück.

Edgar brauchte sich nicht zu sorgen. Sie würde ihn auch heute nicht enttäuschen. Bis zum Abend würde sie sich – wie gewohnt - in die strahlende Göttin verwandeln, die bisher jede Veranstaltung der Mastorn mit Glanz und Glamour aufgewertet hatte.

Edgar interessierte sich wenig dafür, womit Christine sich während seiner Abwesenheit beschäftigte. Für ihn zählte das Ergebnis, im Leben wie im Beruf.

Er wusste nicht, dass sie Tage damit zubrachte, nach einem Tuch zu fahnden, dessen Farbe exakt den Ton eines neu erstandenen Kleids traf. Dieser Hang zu Perfektion war zur Manie entartet, mit der sie ihre innere Leere füllte. In ihren Schränken stapelten sich nutzlose Accessoires, streng geordnet nach Mustern, Größen und Anforderungen. Dabei gab es kaum Anforderungen. Jeder hätte das bemerkt, nur er nicht.

Warum auch? Edgar liebte sie nicht und Christina hatte aufgehört, darunter zu leiden. Im Gegenteil, ihre Gefühle für ihn hatten sich in tiefe Abneigung verwandelt.

Nach außen inszenierten sie sich als das perfekte Paar, denn ein harmonisches Privatleben galt als unerlässlich für den zügigen Aufstieg in die luftigen Höhen der Mastorn. Und für den war Edgar bereit, alles zu tun. Darüber hinaus vertrat er konservative Überzeugungen, die seines Erachtens auf Zustimmung der maskulinen Entscheidungsträgerschaft - also der Mehrzahl - stießen. Eine war seine unumstößliche Maxime, dass Frauen einzig dazu bestimmt waren, ihren Männern den Rücken freizuhalten, damit diese unbelastet ihre Karrieren forcieren konnten.

Einer schloss sich dieser Ansicht allerdings nicht an. Sein Vorbild Leopold Kersch, als dessen legitimer Nachfolger er sich bereits sah, sorgte dafür, dass sich das Verhältnis zu Gunsten der weiblichen Belegschaft verschob, wenngleich bislang marginal.

Christina entsprach Edgars kruden Erwartungen. Vermutlich hatte er sie deshalb geheiratet. Ihr passives Verhalten hinterfragte er nicht und ihre Gier nach teuren Kleidern zahlte sich – wenn´s drauf ankam - aus. Die Kosten, die sein Budget durchaus belasteten, verbuchte er als Investition in seine Zukunft.

Christinas Außenauftritte waren für ihn von unschätzbarem Wert. Sie gestaltete sie mit feinem Geist, dezenter Eleganz und auffallender Schönheit. Ihre Schönheit verdankte sie Gesichtszügen, denen hohe Wangenknochen, schräge Katzenaugen und volle Lippen eine slawische Anmutung verliehen. Wenn sie sich herausputzte, verwandelte sie sich in ein vollendetes Luxusgeschöpf, das Phantasien beflügelte und Türen öffnete. 'Rassepferd´ hatte Edgar sie einst genannt. Ihr feiner Geist kam ebenfalls nicht von ungefähr. Er bedurfte eines harten Trainings. Das vollzog sie an Tagen, an denen sie Edgar zu Events begleitete, denen er Wichtigkeit beimaß. Dann las sie sich durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Fachliteratur, um ihre Zuhörer mit einschlägigen Kenntnissen zu fesseln. Ein paar würzige Bonmots, locker in die Unterhaltung gestreut, sicherten ihr ungeteilte Aufmerksamkeit und Edgar unverhohlene Bewunderung.

Selten konnte Christina sich hinterher daran erinnern, was sie von sich gegeben hatte. Ebenso wenig fiel ihr ein, was ihre Gesprächspartner zur Unterhaltung beigetragen hatten. Sie konnte sich lediglich daran erinnern, wie sie an ihren Lippen gehangen hatten, während sie ihre angelernten Phrasen und Floskeln ausstieß. War die Vorstellung beendet, warf sie die Maske ab, wie ein zu schweres Kostüm. Edgar tat es ihr gleich. Sobald das Publikum sich entfernt hatte, entledigte er sich seiner aufgesetzten Freundlichkeit. Für Christine waren Edgars Geschäftsfreunde nichts weiter als eine Horde Egomanen, deren einziger Daseinszweck darin zu bestehen schien, vom Kuchen stets das dickste Stück abzukriegen. Und Edgar war ihr bester Protagonist. Er allerdings griff sich auch die Sahne.

*

Kersch hatte Nadja rufen lassen. Sie ahnte, was das bedeutete. Ihre Kollegen zuckten in der Regel zusammen, wenn sie zu ihm zitiert wurden. Nadja war zu vertraut mit seinen Eigenheiten, um eine Audienz bei ihm zu fürchten.

Auf dem Weg zu den Räumen der Geschäftsleitung begegnete ihr Vinzent Regnier, einer der unzähligen Programmierer. Mit gesenktem Kopf schlurfte er an ihr vorbei. Sie kannte ihn namentlich, weil Leo ihn einmal erwähnt hatte. ´Ein Genie´ hatte er ihn genannt. Regnier verkörperte das fleischgewordene Klischee eines Nerds. Er war so blass, dass man davon ausgehen konnte, dass er das Tageslicht praktisch nie sah. Seine Bekleidung, die er selten zu wechseln schien, bestach durch umwerfende Geschmacklosigkeit. Nichts passte und nichts passte zusammen.

Kersch telefonierte, als Nadja eintrat. Bequem lümmelte er hinter seinem Schreibtisch und bedeutete ihr mit einer lässigen Geste, ihm gegenüber Platz zu nehmen. So wurde sie interessierte Zeugin eines Monologs, den Leopold Kersch mit einem bekannten Lokalpolitiker abhielt, der über viel Einfluss und wenig Skrupel verfügte. Während Kersch sein Opfer am anderen Ende der Leitung bearbeitete, zwinkerte er Nadja verschwörerisch zu. Er legte sich keinerlei Zurückhaltung auf, obgleich sie seiner offenkundigen Erpressung als Zeugin beiwohnte. Nadja versuchte ein komplizenhaftes Lächeln, um ihn milde zu stimmen, aber das war offenbar nicht nötig, denn Leopold Kersch war bestens gelaunt, als er mit Siegermiene den Hörer auf die Gabel warf.

”Was für ein Idiot! Er will einfach nicht wahrhaben, dass wir zusammen eine Leiche im Keller verbuddelt haben. Na warte nur, wie er den Schwanz einziehen wird, wenn ich das stinkige Teil ausgrabe”, lachte er, sprang auf und rannte um den Tisch herum, um sie zu umarmen. Besitzergreifend zog er sie von ihrem Sessel hoch, was Nadja nur widerwillig zuließ. Seit sie geheiratet hatte, schätzte sie die körperlichen Übergriffe ihres Chefs nicht mehr so sehr, wie sie es in der der Vergangenheit getan hatte. Kersch hingegen empfand ein fast sadistisches Vergnügen daran, sie zu den unmöglichsten Zeiten in sein Büro kommen zu lassen, um sie mit seinen unerwünschten Vertraulichkeiten einzuschüchtern. Er wusste, dass sie sich nicht wehren konnte, denn auch mit ihr hatte er manches Gebein im Souterrain versteckt. Genau genommen, gebot er über ein verdammt volles Untergeschoss und dieses unerschöpfliche Reservoir war nicht das einzige Geheimnis seines Erfolges.

Kersch verpasste Nadja einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange und bot ihr einen Stuhl am Konferenztisch an. Als sie Platz genommen hatte, setzte er sich an die andere Seite des Tisches und sah sie eindringlich an. Diese Förmlichkeit beunruhigte sie.

Väterlich jovial faltete er die Hände und sagte: "Meine liebe Nadja, mit dem heutigen Tage befördere ich dich zur Gebietsleiterin für Oberbayern. Ich hatte das schon seit längerem vor, dachte mir aber, dass ich dich damit anlässlich unserer Sommerparty überrasche. Ich hoffe, du freust dich über mein Geschenk."

"Wie komme ich zu dieser Ehre?" stammelte sie. Ihre Dankbarkeit hielt sich in Grenzen. Leo gab einem nichts umsonst.

"Du hast es dir verdient, weil du gut bist, besser als die meisten Kerle in diesem Betrieb, die ich ausnahmslos für 'Dünnbrettbohrer' halte, aber das habe ich dir schon oft genug ins Stammbuch geschrieben."

'Ja, das hast du´, dachte sie und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Ausdruck ´Dünnbrettbohrer´ gefiel ihr, denn er beschrieb, was auch sie von einigen männlichen Kollegen hielt. Sie kannte Leos Vorliebe für Kraftausdrücke und sie wusste, dass er es mochte, seine Mitarbeiter lächerlich zu machen.

"Du hast für den Job, für den ich dich erwählt habe, den richtigen Biss, die nötige Portion Ehrgeiz, das Wissen und das entsprechende Auftreten. Außerdem bist du hart im Nehmen. Die Entscheidung, dich zur Gebietschefin zu krönen, habe ich übrigens sehr einsam getroffen. Wundere dich also nicht, wenn du auf anfängliche Schwierigkeiten stoßen wirst", setzte er seine Ausführungen fort.

"Aber es wird Gerede geben", konterte sie halbherzig.

"Stört dich das etwa? Das wäre mir neu. Zieh dir was Schönes an, denn heute Abend wirst du in die feine Upper Class der Mastorn eingeführt, oder soll ich besser sagen, in die Schlangengrube gestoßen? Die Party beginnt um 19 Uhr – sei pünktlich!“ Ein grunzendes Lachen folgte seinen Ausführungen.

Ehe sie widersprechen konnte, war er aufgestanden. Die Unterredung war beendet. Sie folgte ihm zur Tür, die er bereits aufhielt.

"Deine Beförderung gebe ich natürlich hochoffiziell in einem Rundschreiben bekannt, das die Lindinger gerade aufsetzt. Ende März fährst du zur Schulung nach Ludwigsburg. Blamier mich nicht, denn ich setze große Erwartungen in dich! Ach ja, damit ich es nicht vergesse. Bau dir endlich ein tragfähiges Netzwerk auf. In diesem Punkt hast du Handlungsbedarf."

Nadja stand benommen im Vorzimmer und starrte auf die geschlossene Tür, hinter der Kersch sich vermutlich wieder gemütlich an seinem wuchtigen Büromöbel niedergelassen hatte, um neue Intrigen auszubrüten. Nadja murmelte einen kurzen Gruß an Karin Lindinger und verließ nachdenklich die Geschäftsräume. Wann würde Leo ihr für seine unerwartete Großzügigkeit die Rechnung präsentieren? Und wie hoch würde diese ausfallen?

Plötzlich erinnerte sie sich daran, auf welch üble Tour sie sich vor wenigen Jahren Leos entledigt hatte, um frei zu sein für Florian. Sie ahnte, dass die Angelegenheit für Leopold keineswegs abgeschlossen war, auch wenn er sie seit einiger Zeit in Ruhe gelassen hatte. Kersch überließ das Feld niemals ungesühnt einem Widersacher.

Das schnarrende Telefon riss sie aus ihren Überlegungen.

"Fast hätte ich es vergessen. Lass dir von meiner Sekretärin eine Einladung aushändigen. Ohne die kommst du nämlich nicht rein. Ich freu mich auf dich."

Nadja hielt den Hörer des Telefons fest umklammert; sie lauschte Leopolds rauchig sanfter Stimme, die so schnell in unduldsame Schärfe umschlagen konnte.

Süffisant entgegnete sie: "Du hast hoffentlich nichts dagegen, dass ich meinen Mann mitbringe."

"Aber nein, wo denkst du hin! Bring deinen Rechtsverdreher ruhig mit, meine Frau ist schließlich auch dabei. Solche Anlässe gebieten, dass die Partner dabei sind. Schließlich betont die Mastorn stets, wie wichtig verlässliche Ehen für das Ansehen der Firma sind. Wir wollen doch mit gutem Beispiel vorangehen, Nadja, nicht wahr?" insistierte er boshaft.

„Zählen dazu auch eingetragene Schwulen-Lebensgemeinschaften?“

„Darauf erwartest du sicher keine Antwort, oder?“

*

Es war fast Mittag, als Christina, gehüllt in einen dünnen Kaschmirpulli, enge Jeans und hochhackige Wildlederpumps auf das Taxi wartete. Vielleicht war sie zu warm angezogen, aber das konnte sie jetzt nicht ändern. Als die Droschke auf der gegenüberliegenden Straße hielt, eilte sie aus dem Haus. Isabell Krahl kam ihr entgegen. 'Nein, nicht jetzt´, dachte Christina verzweifelt. Sie deutete auf das wartende Auto und begann die Straße überqueren.

Isabell stellte sich ihr in den Weg: „Bitte entschuldige, dass wir gestern wieder etwas lauter waren.“

„Ich habe nichts gehört“, entgegnete Christina ungeduldig. Ihre Zeitplanung geriet in Schieflage.

„Du vielleicht nicht, aber dein Mann.“

„Der sah auch keinen Grund zur Beschwerde.“

„Das denkst auch nur du. Er hat heute früh angerufen und uns massiv gedroht. Ich habe ihm zum wiederholten Mal erklärt, dass man Kinder nicht auf Kommando ruhigstellen kann. Sie sind schließlich keine Maschinen, die man einfach abschaltet. Warum versteht er das nicht? Richte ihm doch bitte aus, dass wir am Wochenende in die Ferien fahren und uns bis dahin alle Mühe geben, ihn nicht zu stören. Nochmal, es tut mir leid.“

Edgar konnte Kinder nicht ausstehen. Aber das wusste Isabell natürlich nicht. „Ist schon gut. Ich muss leider los. Grüß´ Arthur von mir.“

Christina ließ ihre Nachbarin stehen, was eigentlich nicht ihre Art war.

Sie hörte noch, wie Isabell hinter ihr rief: „Was macht ihr mit dem Hund während unserer Abwesenheit?“

Sie drehte sich nicht mehr um.

In der Innenstadt suchte Christina zuerst Ihren Coiffeur auf. 'Friseur´ war im Hinblick auf den Preis für die Kunst am Haar nicht die geeignete Bezeichnung.

Julian erwartete sie bereits. „Na meine Schöne, Ansatz, Schnitt und Knoten?“

Sein plump vertraulicher Ton gab ihr Sicherheit. Sie schaute in den Spiegel und entschied spontan, auf die Ansatzbehandlung zu verzichten. „Nein Julian. Heute wünsche ich mir nur einen ausgefallenen Schnitt oder etwas Hochgestecktes, das wie selbstgemacht wirkt. Zerfleddert oder so. Lassen Sie sich etwas Besonderes einfallen. Allerdings muss es schnell gehen, meine Zeitreserven sind etwas knapp.“

„Ah Sie haben etwas ganz Besonderes vor? Er rollte verschwörerisch mit den Augen.

Sie ahnte, woran er dachte.

„Um das Richtige zu kreieren, müsste ich wissen, was.“ Die reine Neugierde.

„Schneiden Sie mir einfach die Haare. Ich werde sie offen tragen.“

„Wie Sie meinen. Also waschen und schneiden.“ Sichtlich beleidigt schob er Christina auf ihrem Sessel zum Waschtisch, wo Roberta sie bereits erwartete. Nach der Haarwäsche und einem kurzen Anfönen durch Roberta übernahm Julian wieder die Regie.

„Schneiden Sie die Haare heute bitte etwas kürzer als sonst.“

Dieser Wunsch zauberte auf Julians Gesicht einen Hauch dankbarer Freude. „Darf ich mich ein wenig austoben?“

„Aber ja, nur zu! Setzen Sie sich keine Grenzen.“ Was war nur in sie gefahren?

Als das Werk vollendet war, sah Christina anders aus. Anstatt sorgfältig frisiert, stand das Haar zu allen Seiten ab und es reichte ihr nur noch bis zum Kinn. Der dunkle Haaransatz trat deutlicher hervor. „Ich sehe aus, als sei ich gerade aus dem Bett gekrochen.“

Julian grinste: „Wohl wahr, Sie sehen aus wie ein Teenager, der gerade eine heiße Nacht hinter sich hat. Dieser Schnitt verjüngt Sie um Jahre!“

So unrecht hatte er nicht. Christina bezweifelte, dass Edgar die Veränderung überhaupt bemerkte.

Nebenan lag das Kosmetikinstitut, bei dem sie ebenfalls einen Termin hatte. Auch hier kürzte sie das Programm und bat darum, lediglich passend zu ihrer neuen Haarpracht geschminkt zu werden.

„Die Poren sind etwas vergrößert. Eine kleine Entspannungsmaske würde das Problem lindern“, empfahl Margret, Koryphäe auf dem Gebiet ´Fassadenpflege´.

„Nein danke, heute nicht. Nächste Woche vielleicht. Bitte nur ein dramatisches Make-up.“

„Dramatisch?“ fragte Margret erstaunt. Sie kannte Christina seit Jahren.

Nach drei Stunden entließen die Meister ihres Fachs eine zufriedene Kundin, die sich wohlgefällig in den Schaufenstern der Läden betrachtete. Um sich selbst und die gelungene Wandlung zu feiern, steuerte Christina ein Café an. Als sie eintrat, spürte sie die Blicke der Gäste, die ihr folgten, während sie einen Tisch am Fenster ansteuerte. Betont langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, um dieses Gefühl der Bewunderung auszukosten. Eine prickelnde Hochstimmung hatte sie erfasst, die ihre Angst zusehends verdrängte. Der Abend konnte kommen.

Plötzlich erregte ein elegant gekleideter Mann mit olivfarbenem Teint und lackschwarzen Haaren ihre Aufmerksamkeit. Unvermittelt sah sie ihn an, um ihre Wirkung zu testen, wandte sich aber ab, als sie merkte, dass auch er sie fixierte.
Wieder drehte sie sich in seine Richtung, um festzustellen, ob er sie immer noch anstarrte. Er lächelte ihr zu. Dabei legte er bemerkenswert weiße Zähne frei, die sein Gesicht noch dunkler wirken ließen. Sein Blick wanderte inzwischen auf eine schamlos direkte Art über ihren Körper und provozierend zu ihren Augen zurück. Sie fand Gefallen an diesem subtilen Geschlechterspiel. Es schien in diesem Augenblick nur sie und diesen Fremden zu geben, den sie nun ebenso unverhohlen mit ihren Augen abtastete, wie er es mit ihr getan hatte.

Ihr Handy klingelte. Warum gerade jetzt? Sie starrte auf das Display. Die Nummer ihrer besten - nein - einzigen Freundin leuchtete ihr entgegen. Sie unterdrückte den Anruf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Objekt ihrer Begierde, das sich gerade von ihr abwandte.

Seine Begleiterin war von der Toilette zurückgekehrt. Als er mit ihr das Café verließ, warf er Christina beim Hinausgehen ein letztes vieldeutiges Lächeln zu, das sie erwiderte. Sie zahlte ebenfalls. Als sie in die belebte Fußgängerzone hinaustrat, war sie von einer angenehmen Leichtigkeit und seltsamen Vorfreude erfüllt. Die Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht wärmten, empfand sie wie zärtliche Liebkosungen.

*

Nadja verließ das Büro früher als sonst, um sich auf die Veranstaltung vorzubereiten. Sie spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Die Vorstellung, dass Leo und Florian einander begegnen würden, versetzte sie in Unruhe. Kersch würde die Gelegenheit nutzen, Nadja zu desavouieren, indem er Belangloses aus der Firma erzählte und dabei kleine Indiskretionen einstreute, die Florian misstrauisch machen mussten.

Der Beförderung mit ihren ehegefährdenden Auswirkungen konnte sie entgehen, wenn sie ihren Job kündigte. Es gab mehrere Gründe, die sie davon abhielten, diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. Dazu gehörten ihr unbedingter Aufstiegswille und die exzellenten Beziehungen ihres Ex-Geliebten. Er konnte – wenn ihm danach war – dafür sorgen, dass sie nie wieder einen Fuß in irgendein Büro setzte. Es musste eine andere Lösung geben und sie war sich sicher, dass ihr eine einfallen würde. Leo erpresste zwar alle, aber auch er war nicht unverwundbar. Sie musste die Stelle zu finden, auf die beim ausgiebigen Bad in Drachenblut das Lindenblatt gefallen war. Was für ein poetischer Vergleich angesichts der schnöden Wirklichkeit.

Zu Hause angekommen, mixte sie sich einen Gin-Tonic mit Eis, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen. Dann ließ sie sich auf das große Sofa im Wohnzimmer fallen und analysierte die weiteren Konsequenzen, die sich aus ihrer neuen Stellung ergaben. Sie würde in ein größeres Büro umziehen, selbstverständlich in eines, das näher bei seinem lag. Leo hatte ihr das schon gesteckt. Sie würde noch mehr arbeiten als bisher und das würde fraglos dazu führen, dass sie ihr Privatleben noch mehr vernachlässigte. Nun gut, ihr Mann hatte auch genug zu tun und so kam ihr dieser Umstand eher entgegen. Problematisch hingegen war, dass Leo wieder über ihr Leben bestimmen würde. Mindestens ebenso beunruhigend war die Tatsache, dass Edgar Ohlert ihr direkter Vorgesetzter wurde. Ohlert eilte der Ruf voraus, dass er ´keine Gefangenen machte´ - aber das bedeutete auch, dass man bei ihm jede Menge Leichen vermuten durfte. Nadja plante, das herauszufinden. Wie das ging, hatte Leo ihr eindrucksvoll beigebracht.

Ihre Kollegen hatte Nadja vorsorglich noch nicht über Kersch´ Personalentscheidung informiert. Sie würden es früh genug aus zweiter Hand erfahren. Bis dahin konnte Nadja sich in Ruhe auf ihre zwiespältige Reaktionen - einer Mischung aus Unverständnis, Missgunst und Bewunderung - vorbereiten. Nadja konnte sich lebhaft vorstellen, was über sie in der Firma getuschelt wurde. Ihre Leistungen waren unbestritten. Zahlen belegten das. Trotzdem - ohne Kersch' besondere Protektion hätte sie diesen Aufstieg niemals geschafft. Frauen waren nach wie vor benachteiligt, wenngleich man das bei der Mastorn nicht von allen behaupten konnte. Es gab neben Nadja Kolleginnen, die ebenfalls bemerkenswerte Karrieresprünge hingelegt hatten, ohne - wie Nadja und einige andere fanden - über die nötigen Qualifikationen zu verfügen. Kersch wusste, was er seinen ´personal properties´ schuldig war.

Nach dem zweiten Drink griff Nadja zum Telefon und rief Florian an. Er freute sich sehr, sowohl über die Einladung zur Sommersause der Mastorn, als auch über Nadjas Beförderung. Nadja war erleichtert, aber keineswegs beruhigt. Florian versprach, rechtzeitig nach Hause zu kommen, um sich umzuziehen. Eine Stunde später erschien er mit einer Flasche Champagner.

"Auf uns beide", strahlte er und holte Gläser.

Sie fühlte sich bereits angetrunken nach den beiden Gin Tonic, die sie hastig hinuntergekippt hatte. Florian schien ihren Zustand nicht bemerkt zu haben. Mit verheißungsvollem Lächeln füllte er die Gläser, reichte ihr das vollere und stieß mit ihr an. Dann glitt seine freie Hand über ihre kleinen Brüste.

Nadja war nicht in der Stimmung für Liebesspiele. Florian spürte die Ablehnung und ließ von ihr ab, füllte ihre Gläser nach und gab ihr einen brüderlichen Kuss auf die Wange. Noch ein 'brüderlicher Kuss´, dachte Nadja bedrückt. Nachdem sie in vertrautem Schweigen die Flasche geleert hatten, fühlte sich Nadja weniger angetrunken, als vielmehr angenehm entspannt. Schläfrig sank sie auf den Teppich und zog ihren Mann zu sich hinunter. Sie liebten sich heftig. Und in Nadjas wilden Gedanken tauchte Leopold auf. Danach streichelte Florian zärtlich über die knabenhaften Rundungen ihres zierlichen Körpers. Seine Hände wanderten kundig über ihre schlanken Oberschenkel nach oben, bis sie das schmale Gesicht mit den großen, immer etwas schreckhaft wirkenden, braunen Rehaugen erreicht hatten. Nadja glich mit ihrem brünetten Pagenkopf einer aparten Mischung aus Audrey Hepburn und Lolita. Jedenfalls stellte Florian sich Nabokovs Heldin so vor, wenngleich diese bedeutend jünger war.

*

Als Christina zurückkehrte lief ihr Isabell erneut über den Weg. Sie hatte ihre beiden schulpflichtigen Töchter dabei.

Christina fühlte sich bemüßigt, sich bei ihr zu entschuldigen. „Es tut mir leid, dass ich dich vorhin habe einfach stehen lassen. Ich war schrecklich in Eile.“

„Das verstehe ich doch. Ich wünschte, dein Mann hätte einen Funken deines Anstands.“

„Hat er euch schon öfter gedroht?“, fragte Christina besorgt.

Isabell hielt einen Moment inne. Offenbar wollte sie nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken. „Er macht uns das Leben nicht gerade leicht.“

„Das habe ich nicht gewusst“, gestand Christina.

Die Kinder quengelten und zogen an ihrer Mutter. „Ach mach dir nichts draus. Wir müssen ja lediglich seinen Telefonterror ertragen.“

Was sie nicht gesagt, aber gemeint hatte, entging Christina nicht. Isabell fuhr fort, „und ab und zu dürfen wir seinen Hund ausführen.“

Isabell war zu beneiden. Ihr Mann Arthur war fürsorglich, freundlich und tolerant. Christina hatte noch nie ein böses Wort von ihm gehört.

Edgar kam früher als gewöhnlich nach Hause, um Zeit für umfangreiche Pflegemaßnahmen zu haben. Er war eitel.

Christina stand in ihrem Ankleidezimmer - einem großen Raum nur für ihre Kleider - halbnackt vor dem Spiegelschrank und hielt sich selbstverliebt eine dunkle Robe vor den Körper. Sie hatte nicht bemerkt, dass Edgar ihr dabei zugesehen hatte.
Er trat ganz nah an sie heran und umfasste grob ihre Taille. Sie zuckte erschrocken zusammen und versuchte, ihn von sich zu drängen. Edgar ließ sich dadurch von seinem Vorhaben nicht abbringen. Ihre verzweifelte Gegenwehr steigerte sein Verlangen. Brutal drückte er sie auf das kleine Sofa und riss ihr den winzigen Slip herunter. Dann kniete er sich über sie und hob ihr Becken etwas an, um besser in sie eindringen zu können. Ungeduldig zog er den Reißverschluss seiner berstenden Hose auf, befreite sich von den restlichen Hindernissen und stieß seinen Penis roh in ihre warme, feuchte Scheide. Letzte Nacht hatte er ihr nach dem Geschlechtsakt zugeraunt, dass Sex mit ihr sich wie ´ein Schluck lauwarmes Wasser gegen den Durst´ anfühlte. Dann hatte er sich von ihr weggedreht und war sofort eingeschlafen. Und jetzt brachte er den Akt wieder schnell und lieblos zu Ende – ein weiterer Schluck lauwarmes Wasser gegen den Durst.
Christina stöhnte wie ein verwundetes Tier, doch auf einmal gefiel ihr sein grobes Gemetzel. Sie dachte an den Fremden im Café, der mit der Lüsternheit in seinen dunklen Pupillen ein starkes Verlangen in ihr ausgelöst hatte. Als Edgar nach schneller Triebbefriedigung aufspringen wollte, zog sie ihn zu sich hinunter und küsste ihn.

Er erwiderte den Kuss, verwundert darüber, dass sie sich nicht sofort angeekelt von ihm abgewandt hatte. "Was ist los mit dir, du benimmst dich ja plötzlich wie eine richtige Frau. Fast hatte ich den Eindruck, dass es dir Spaß gemacht hat, oder hast du mir nur wieder etwas vorgegaukelt? Dann hast du dir allerdings heute mehr Mühe als sonst gegeben. Deine Frisur ist jedenfalls ruiniert. Ich hoffe, dass dich das ausnahmsweise nicht stört. Im Übrigen hast du noch genügend Zeit, dein ramponiertes Aussehen in Ordnung zu bringen."

Anstatt darauf zu antworten, bearbeitete sie sein Glied mit ihrer Zunge bis es wieder steif war. Was dann folgte, war perlender Champagner aus Kristallgläsern – mehr als der Durst vertrug.

Christina merkte, dass sie Edgar verwirrt hatte. Eine neue Erfahrung! Hastig suchte er seine Sachen zusammen und verschwand wortlos aus ihrem Zimmer.

Sie gab sich noch einen Moment ihren neuen Empfindungen hin. Nie zuvor hatte sie einen Orgasmus erlebt, jedenfalls nicht beim Geschlechtsakt und nie zuvor hatte sie ihre Zunge so raffiniert eingesetzt, wie an diesem sommerlichen Spätnachmittag. Was für eine Entdeckung!

Ihr Kleid lag zerknittert auf dem Boden. Sie musste es vorsichtig bügeln und die Flecken entfernen, die Edgar in der Hitze des Gefechts hinterlassen hatte. Sie entschied sich anders. Während sie ein kurzes, buntes Etwas aus dem Schrank zog, stellte sie fest, dass Edgar nicht einmal bemerkt hatte, dass sie ihr Haar kürzer trug. Sie dachte an Leopold Kersch, als sie ein zweites Mal an diesem Tag unter der Dusche stand. Edgars Chef machte ihr auf jeder Betriebsfeier dreiste Avancen. Bisher hatte sie darauf immer wie ein verschrecktes Huhn reagiert, weil Kersch so einschüchternd direkt war. Seine Art gefiel ihr. Christina nahm sich vor, dieses Mal auf seine Anmache einzugehen. Mit Genugtuung malte sie sich Edgars Gesichtsausdruck aus, wenn er zusehen musste, wie sie ungeniert mit Kersch flirtete.

*

Die Party fand im Bayerischen Hof statt. Das Luxushotel machte seinem Ruf alle Ehre. Aufgrund günstiger Wetterbedingungen hatte man die Blue Spa Lounge auf dem Dach gewählt, die in delikater Opulenz erstrahlte. Für das Dinner war der Wintergarten dekoriert worden. Große runde Tische waren mit weißen Tischtüchern eingedeckt, auf denen feiner Goldstaub lag. Ensembles aus ebenfalls weißen Kerzen und großzügige Blumenarrangements verbreiteten eine festliche Atmosphäre. Handgeschriebene Kärtchen ordneten - hinter edlem Geschirr platziert - Hierarchien. Es konnte getrost davon ausgegangen werden, dass nicht jeder Gast mit der Anordnung konform ging. Für Altgediente der Geladenen verkam diese Traditionsveranstaltung ohnehin mehr und mehr zu einer Selbstdarstellungsorgie des Niederlassungsleiters. Der ließ es sich nie nehmen, eine ebenso kurze wie launige Rede zu halten. Wer genau hinhörte, erfuhr, welches seiner Schäfchen in Ungnade gefallen war. Aber nicht nur deshalb fürchtete das Gros der Teilnehmer sich vor diesem Abend. Eine Aufmerksamkeit zu viel in die falsche Richtung oder eine zu wenig in die richtige, konnte den Sturz aus fragiler Höhe nach sich ziehen. Schon mancher Emporkömmling, dem der Erfolg geneidet wurde, hatte sich durch einen kleinen Ausrutscher den Aufstieg verpatzt. Das passierte auf subtile Weise. Kersch besaß neben seinen unzähligen Fähigkeiten ein besonderes Talent, störende Mitarbeiter raffiniert gegeneinander auszuspielen. Für diese Scharmützel gönnte er sich viel Zeit, um der ´Zerfleischung´ lustvoll beizuwohnen. Hatte er genug davon, entzog er einem seiner Gladiatoren jedwede Arbeit, was final zum Abbruch der Arbeitsbeziehung führte. Natürlich immer auf 'freiwilliger´ Basis, wie Kersch stets betonte. Schließlich wollte man sich nicht unnötig mit Arbeitsgerichten herumstreiten. Das verursachte Kosten und schadete dem Ruf der Firma.

Insider wussten zu berichten, dass Leo Kersch nicht davor zurückschreckte, aufmüpfiges Fußvolk durch Detektive beobachten oder deren Computer hacken zu lassen. Da er über ein von der Konzernleitung eingerichtetes Sonderkonto verfügte, über das er keine Rechenschaft abzulegen brauchte, besaß er die finanziellen Mittel für derlei illegale Aktionen. Das Geld war eigentlich dazu bestimmt, Kaufinteressenten, Politiker und Prominente mit kleinen Annehmlichkeiten wie Reisen, Restaurantbesuche, Notebooks, Theaterkarten und anderen Nettigkeiten zu 'verwöhnen'. Nadja wusste davon, denn Leo hatte ihr dieses Geheimnis in einer redseligen Laune anvertraut. Dieses Wissen betrachtete sie als einen Mosaikstein, der ihr vielleicht einmal nützlich sein konnte, falls Leo ihr größere Steine in den Weg zu legen trachtete. Im Laufe der Zeit hatte sie gelernt, ihn sorgfältig zu beobachten und genau hinzuhören. Seine Hybris machte ihn bisweilen recht redselig.

Nadja erwartete, dass Leopold ihr einen Platz an seinem Tisch zuweisen würde. Er enttäuschte sie nicht. Wenigstens würde sie nicht neben ihm sitzen. Edgar Ohlert war als Puffer vorgesehen. Ausnahmsweise das kleinere Übel, fand sie. Vom Charakter her waren sich Ohlert und Kersch ziemlich ähnlich, allerdings verfügte Ohlert nicht über den Charme, der Kersch´ größtes Kapital war. Auch optisch hatte Ohlert mit Kersch nichts gemein. Er war groß und schlank. Schlank war eigentlich nicht die richtige Bezeichnung. Ohlert war dünn, sehnig und hochgewachsen! Seinen Kopf, der Nadja an einen Adler erinnerte, zierte lichtes, blondstichiges Haar. Das Hervorstechendste an ihm aber waren die stahlblauen Augen. Manchmal trug er eine goldgefasste Brille und die leichte Tönung dieser Brille verstärkte das Blau. Vermutlich trug er die nur, um älter auszusehen, denn er war erst 39 und damit ziemlich jung für die Position, die er bekleidete. Ein nervöser Zug um die schmalen Lippen verlieh seinem Gesicht etwas Überhebliches und zugleich Beängstigendes. Eine Mischung aus englischem Landadeligen und deutschem Buchhalter, dachte Nadja sarkastisch. Sein erstklassiger Geschmack unterschied ihn ebenfalls von Kersch. Wie kein anderer bei der Mastorn, verstand es Ohlert, sich zu kleiden. Alles an ihm wirkte stilvoll und gediegen. Eigentlich sah er nicht schlecht aus, genau genommen sah er sogar richtig gut aus. Sein rüdes Benehmen ruinierte jedoch den optischen Gesamteindruck. Übrig blieb eine Erscheinung, in deren Gegenwart man sich stets unbehaglich fühlte, und Nadja war nicht die einzige, der es so erging.

Ohlerts Joker war seine Frau Christina, Objekt glühender Bewunderung der testosterongesteuerten Belegschaft der Mastorn. Obwohl sie selten in Erscheinung trat, wurde hinter vorgehaltener Hand ehrfurchtsvoll über C.O. getuschelt, wie sie sie plump vertraulich genannt wurde. Nadja vermutete, dass Ohlert seine Position zu einem erheblichen Teil seiner Frau zu verdankte, obgleich sie sich nicht vorstellen konnte, dass Kersch es wagen würde, sich an die Angetraute eines Mitarbeiters heranzumachen – nicht einmal bei Ohlert würde er so weit gehen.

Nadja würde in Leos Blickfeld sitzen. Er konnte sie von seinem Platz ihr gegenüber gut beobachten. Zwischen Ohlert und ihren Mann gepresst, bot sie ihm ein gutes Angriffsziel.

Noch blieb ihr eine Verschnaufpause und die Muße, den lauen Sommerabend zu genießen, denn ihre Tischgesellschaft war noch nicht eingetroffen. Sie schlenderte mit ihrem Mann auf die Terrasse, auf der etwa dreißig Gäste, an bunten Essenzen nippend, die Aussicht auf den Liebfrauendom genossen. Ein DJ sorgte für sanft klingende Jazz-Töne. In der Mischung aus PR-Leuten, Chefprogrammierern, Abteilungs- und Verkaufsleitern samt Begleitung entdeckte Nadja Vinzent Regnier. Was machte das ´Genie´ hier? Soweit Nadja wusste, war er ein Programmierer, der Anweisungen ausführte, anstatt welche zu erteilen. Möglicherweise hatte sich sein Status zwischenzeitlich ebenfalls geändert und ihm eine Einladung in The Inner Circle beschert. Regnier, wie immer etwas ungepflegt, hatte ein schwarzgewandetes Mädchen im Schlepptau, das gut zu ihm passte. Junges Personal mit gefüllten Tabletts bahnte sich den Weg durch die Reihen. Der Nerd und seine Freundin griffen eifrig zu. Nadja hielt sich zurück, sie spürte noch die Wirkung der Drinks, die sie sich im Laufe des Nachmittags einverleibt hatte.

Plötzlich verstummte der Small Talk. Ein Raunen, das Nadja an tierische Brunftgeräusche denken ließ, schien alle Männer gleichzeitig erfasst zu haben. Und als sie sich umdrehte, verstand sie warum. Christina Ohlert schritt an der Seite ihres adlergleichen Gatten Richtung Bar. Das also war C.O., die Kronprinzessin. Sie sah atemberaubend aus in ihrem kurzen Hängerchen, das mehr zeigte, als verhüllte, eine Abendrobe ebenso raffiniert wie gewagt. Die schöne Frau Ohlert wusste offenbar sehr genau, wie weit sie gehen durfte, um die Pläne ihres Mannes nicht zu gefährden, und wie weit sie gehen musste, um ihm nützlich zu sein. Den überwältigenden Gesamteindruck verstärkten eine etwas derangierte Frisur und ein Make-up, das aussah, als sei ihre Trägerin soeben dem Bett entstiegen. Vielleicht stimmte das auch, dachte Nadja, wenngleich ihre Phantasie nicht ausreichte, sich dieses Paar in inniger Umarmung vorzustellen. Hinter sich hörte sie eine Frau - offenbar Angetraute eines Stammteilnehmers - murmeln, „sie sieht aus wie eine Vogelscheuche. So kennt man Ohlerts bestes Stück gar nicht, mutig, mutig.“

„Eher nuttig, nuttig“, raunte ihr Mann abfällig.

Auch wenn Outfit und Haartracht etwas Anderes auszudrücken versuchten, wirkte Christina Ohlert seltsam kühl und unnahbar, fast künstlich. Nadja erinnerte sich in diesem Moment an eine Äußerung Leos, der sie einmal als ´Eisschrank mit Brüsten´ verspottet hatte. Der ´Eisschrank´ brachte - entgegen dieser Einschätzung – Leos Entourage jetzt zum Schmelzen.

Sogar Florian starrte C.O. gebannt auf den Rücken, an dessen Ende zwei lange, schlanke Beine auf hochhackigen Sandalen den Prachtkörper in Balance hielten.

Nadja hatte sich an diesem Abend für ein dunkelblaues Seidenkleid entschieden, das sie bis zum Hals zugeknöpft hatte. Die Wahl des klösterlichen Outfits war ein strategischer Schachzug. 'Bloß den Bären nicht reizen´. Wie sie nun sah, wäre er gar nicht notwendig gewesen. Ohlerts Frau übernahm den Bärendienst.

Schließlich erschien das Raubtier mit seiner Frau Diane. Mattschimmerndes Exstarlet nannten böse Mitarbeiter sie hämisch. An Gemeinheiten standen sie ihrem gefürchteten Boss in nichts nach. Dabei war Diane Kersch, die sich Diane Fuller nannte, einst eine renommierte Schauspielerin gewesen, die mit Preisen überhäuft worden war. Später verdingte sie sich als Moderatorin beim Bayerischen Fernsehen. Zuständig für den Boulevard, - sprich - die Vermarktung der Isar-Bourgeoisie, hatte sie ihrem Mann die Persönlichkeiten zugeführt, die er für seine Geschäfte brauchte.

Im Licht des schwindenden Sommertages wirkte Diane Kersch ältlich und verhärmt. Ihre Blässe und ihre schwindsuchtartige Magerkeit wurden durch das unscheinbare lindgrüne Modellkleid eines Münchner Nobelschneiders noch verstärkt, was sicher nicht die Absicht des Schöpfers gewesen war. Hätte Kersch doch einmal auf die Dienste eines 'guten Freundes´ verzichtet und seine Frau in einen farbenfrohen ZARA-Fummel gesteckt. Zugegebenermaßen hätte es nicht viel gebracht. Denn Kersch alias Fuller hatte – trotz ihres Jobs - längst jegliche Ausstrahlung eingebüßt und ihr müdes Schweigen degradierte sie zum traurigen Pendant ihres vor Energie und überquellender Lebenslust strotzenden Ehemannes. Es war offensichtlich, dass sie unter der fortwährenden Untreue ihres Gatten litt.

Kersch hatte sein gewinnendstes Lächeln aufgesetzt, das er beibehielt, während er die Gäste einzeln begrüßte. Nadja traten Schweißperlen auf die Stirn und kleine Rinnsale liefen an ihrem Rücken hinunter, als er auf sie zusteuerte. Außer ihm schien es niemand zu bemerken. Sie stellte ihren Mann vor, den Leo offiziell bis zu diesem Zeitpunkt nie gesehen hatte und sie machte Florian mit ihrem Chef bekannt. Insgeheim ging Nadja davon aus, dass Kersch ihren Mann bereits inoffiziell kannte. Es bereitete ihm unübersehbar Vergnügen, mit Florian ausgiebig zu plaudern. Währenddessen beobachtete er Nadja amüsiert aus den Augenwinkeln. Sie sah nervös hinunter auf ihre Schuhspitzen, um seinem Blick zu entgehen.
Endlich wandte er sich den Ohlerts zu, die neben ihnen standen. Er begrüßte Christina Ohlert mit einem galant angedeuteten Handkuss und überschüttete sie mit Komplimenten, die jedem Provinzgigolo zur Ehre gereicht hätten. Die Angebetete lächelte scheu, ihr Mann eisig. Nadja hasste Leo in diesem Moment und konnte sich nicht erklären, warum. War sie etwa eifersüchtig oder einfach nur wütend, weil er diese Show in ihrer Gegenwart abzog? Diane stand aufrecht wie eine Statue daneben und verzog keine Miene. Nicht erstaunlich, wenn man bedachte, dass sie als Schauspielerin gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen.

Endlich nahmen die Gäste ihre Sitzplätze ein. Kersch hielt seine Ansprache, ohne Jemanden ernstlich zu beleidigen. Der Beifall fiel entsprechend aus. Er ließ ihn huldvoll über sich ergehen.

Nach einer kurzen Kunstpause lächelte er gönnerhaft in Nadjas Richtung. ”Abschließend möchte ich Ihnen eine Kollegin vorstellen, die ich heute in Ihren erlauchten Kreis aufgenommen habe.”

Nadja seufzte hörbar. Seine Wortwahl war eine Herausforderung.

”Frau Nadja Schneider wird ab 1. September als Leiterin des Vertriebs für den Bereich Oberbayern verantwortlich zeichnen. Diese Personalentscheidung war längst überfällig und so denke ich, dass Sie alle nicht überrascht sind.”

Verhaltener Beifall zwang Kersch zu einer weiteren kleinen Pause, bevor er fortfuhr: ”Liebe Frau Schneider, darf ich Sie nach vorne bitten.”

Das 'Liebe´ dehnte er in die Länge und schwenkte dabei die Arme einladend. Nadja kam die Aufforderung äußerst ungelegen. Sie hatte nichts vorbereitet. Langsam bewegte sie sich nach vorne. Das Raunen, das ihr folgte, hatte nichts mit Brunft zu tun, eher mit Erwartung. Sie war ja auch nicht Frau Ohlert, in deren Haut sie in diesem Moment gerne gesteckt hätte.

”Liebe Kolleginnen und Kollegen, äh..., nochmal..., also liebe Kollegin - denn soweit ich sehe, ist nur eine da –, liebe Kollegen, da ich Ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr strapazieren möchte, fasse ich mich kurz. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen und werde auch weiterhin mein Bestes geben. Herzlichen Dank schon heute für Ihr Vertrauen.“ Eilig kehrte sie zu ihrem Platz zurück.

Kersch übernahm wieder das Wort: „Liebe Frau Schneider, in Zukunft bitte etwas weniger bescheiden. Dafür besteht kein Anlass. Sie haben in diesem Quartal die meisten Aufträge an Land gezogen und das mit ziemlichen Abstand zum Zweitplatzierten. Aber muss ich das gesondert erwähnen? Meine Herren, Zahlen lügen nicht. Nehmen Sie sich ein Beispiel an unserer Championette und nehmen Sie sie ernst, denn Sie werden noch mehr von ihr hören. Diese Beförderung ist erst der Anfang! Gratulation Frau Schneider.“

Nadja wartete darauf, dass Vinzent Regnier ebenfalls geehrt wurde. Nichts dergleichen geschah. Seltsam. Hatte sie etwas verpasst? Als das erneute Klatschen abebbte, bat Kersch in den Wintergarten. Es dauerte eine Weile, bis alle Gäste ihre Plätze gefunden und eingenommen hatten. An jedem der drei Tische war für acht Leute gedeckt.

Kersch wurde flankiert von seiner Frau zur Rechten und Karin Mommsen zur Linken. Daneben saß Gatte Mommsen. Karin Mommsen leitete die Personalabteilung. Sicher nicht von ungefähr. ´Personal Property´ mutmaßte Nadja giftig.
Ohlert besetzte den Stuhl neben Frau Kersch und die schöne Frau Ohlert thronte zwischen ihrem Mann und Florian.

Bei näherer Betrachtung war die Anordnung gar nicht so schlecht. Florian würde - abgelenkt durch seine leicht bekleidete Nachbarin - nicht allzu sehr auf die nonverbale Kommunikation zwischen Leo und Nadja achten. Erst einmal jedoch widmete Florian seine ganze Aufmerksamkeit seiner Frau. ”Ich bin so stolz auf dich. Aber findest du nicht, dass diese Ernennung außergewöhnlich kurzfristig stattfand? Etwas mehr Vorbereitung hätte sicher nicht geschadet."

Nadja sah erst zu Leo, der sie scharf musterte, dann wandte sie sich an Florian. Sie rückte ganz nah an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: "Du meinst, dann hätte ich eine bessere Dankesrede gehalten? Liebling, diese Beförderung war längst überfällig." Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Leo diese Vertraulichkeit nicht entging.

Florian insistierte, "aber warum ausgerechnet heute? Im September bereits übernimmst du diesen Posten, da wäre es wirklich angebracht gewesen, dich etwas früher zu informieren, anstatt dich fünf vor zwölf ins kalte Wasser zu werfen.”
Wieder wandte Nadja die Flüstertechnik an, um ihr Gegenüber zu ärgern. Sie griff sich an den Hals und spielte mit der rechten Hand an den Knöpfen ihres Kleides.

Noch etwas inniger als zuvor hauchte sie, "vielleicht war die Ernennung als Urlaubsüberraschung gedacht. Du siehst ja, in welch guter Laune unser Statthalter heute ist. Ich vermute, er wollte mehr Untergebene um sich scharen, die ihm ihre Aufwartung machen. Vielleicht kam ihm die Idee ja erst heute Mittag."

„Viele Untergebene hat es ja nicht gerade getroffen. Vielleicht war die Laune eures Chefs doch nicht so gut, wie du mir jetzt weismachen willst.“ Florian stand auf. „Entschuldige bitte, ich muss kurz in der Kanzlei anrufen. Leider duldet das keinen Aufschub.“

Als er auf der Terrasse telefonierte, zwinkerte Leo ihr zu. Er erhob sich ebenfalls und entfernte sich Richtung Waschräume. Nadja war erleichtert, dass er Florian nicht gefolgt war.

Wotan Freyberg trat an ihren Tisch. ”Herzlichen Glückwunsch, liebe Frau Schneider. Willkommen im Club.”

Ehe sie sich bedanken konnte, fuhr er fort. ”Hochachtung! Unser Kaiser hat sich mit der Installation dieses Operettenpostens wieder einmal selbst übertroffen. Warum überrascht mich das nicht?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und schlurfte davon.

Ohlert hielt sich auch nicht lange mit Lobeshymnen auf. Er kam gleich auf die Details ihrer künftigen Tätigkeit zu sprechen und vergaß darüber völlig die Anwesenheit seiner Frau, die still den Ausführungen ihres Gatten lauschte. Nadja hörte nur mit halbem Ohr zu, denn sie dachte an die hämische Bemerkung Freybergs, der das Verkaufsgebiet Süddeutschland bisher in seiner Gesamtheit betreut hatte.

*

Da Edgar sich über sie hinweg ausgiebig mit seiner neuen Mitarbeiterin über die Belange der Mastorn austauschte, wandte Christina sich an deren Ehemann zu ihrer Linken, der gerade wieder Platz genommen hatte und sein Smart Phone in seinem Sakko verstaute. ”Wie fanden Sie die Rede?”

Sie fühlte sich etwas unbeholfen. Dabei hatte sie sich gründlich wie immer vorbereitet. Aber dieser Mann brachte sie aus einem unerklärlichen Grund aus der Fassung. Von ihm ging eine natürliche Selbstsicherheit aus, die sie bei Edgar vermisste. Der kaschierte seine Unsicherheit mit kaltschnäuziger Arroganz.

”Welche Rede?”
”Oh, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht stören.” In ihrem kurzen Kleid kam sie sich plötzlich albern vor. Warum nur in aller Welt hatte sie sich die Haare schneiden lassen und ihre Augen schwarz umrandet? Sie fühlte sich in diesem Moment wie das abgehangene Groupie eines Rockstars und das Verblüffendste war, dass Edgar ihre Wandlung noch immer nicht bemerkt hatte.

”Um ehrlich zu sein, mir ist dieser Niederlassungsleiter etwas zu selbstverliebt. Das Wort Zurückhaltung scheint in seinem Wortschatz nicht zu existieren. Aber sieht man davon einmal ab, fand ich ihn ganz amüsant. Und Sie? Wie fanden Sie seinen Auftritt?”

„Bühnenreif.“ Mehr fiel ihr nicht ein. Edgar kümmerte sich wieder um sie.


Endlich wurde der erste Gang wurde aufgetragen, Hors d'œuvre froid - geräucherter Heilbutt auf einem Rote Bete Salat. Es folgten Consommé, Lachsforelle in Blätterteig, Sorbet, Putenkeule, Käse und den Abschluss krönte ein Mango Panna Cotta. Das Essen wurde begleitet von einem unablässigen Stühlerücken, Aufstehen, Hinsetzen, Umsetzen und Durcheinanderschnattern.

Christine stocherte sich mehr oder weniger schweigend durch all die Köstlichkeiten. Ihr angelerntes Wissen war nicht gefragt. Weder Edgar noch Florian Schneider zeigten Interesse, es mit ihr zu teilen. Hin und weder prostete ihr Jemand zu. Ihr fiel auf, dass es Diane Fuller kaum besser erging als ihr. Das hatte etwas Tröstliches. Christina lächelte ihr zu. Ihre freundliche Geste wurde dankbar erwidert.

Plötzlich sprangen alle auf und strebten auf die Terrasse. Dort tanzte bereits ein dicklicher, etwas ungepflegter Typ, der wie ein Jojo auf und absprang, während seine dunkel gekleidete Begleitung sich wie in Trance im Kreise drehte. Sie sah aus, als habe sie sich vom gleichen Maskenbildner, wie Christina stylen lassen. Edgar zog Christina zu einem Stehtisch, der noch frei war. Als Nadja Schneider sich in Begleitung ihres Mannes näherte, winkte er ihr zu. Die Schneiders gesellten sich zu ihnen und bestellten Caipirinhas. Edgar forderte seine Mitarbeiterin zum Tanz auf und ließ Christina mit Florian allein.

Der nahm den Redefaden von vorhin wieder auf. „Sie sagten beim Dinner, der Auftritt des Niederlassungsleiters sei bühnenreif gewesen. Was meinten Sie damit?“

Sie spürte, dass er sich bemühte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er hatte den denkbar schlechtesten Einstieg dafür gewählt, denn genau genommen, hatte sie der Rede ebenfalls nicht zugehört.

Da sie sich aber an Kersch´ frühere Ansprachen erinnerte, erklärte sie, ”er ist witzig, schlagfertig, originell, aber auch irgendwie hinterhältig. Seine Anzüglichkeiten verbirgt er geschickt hinter Wortspielen, Anekdoten und Frotzeleien. Manchmal überschreitet er Grenzen. Meines Erachtens ist er ein begnadeter Entertainer.”

”Für den Job, den er ausübt, ist das eine nicht zu unterschätzende Begabung.” Sein Lächeln war verführerisch.

Ihre anfängliche Nervosität schwand. Zunehmend fühlte sie sich in seiner Gegenwart wohler. Christina vertraute ihm an, dass sie ihr Jurastudium abgebrochen hatte, doch weiterhin großes Interesse an diesem Fach hegte - eine kokette Lüge im Hinblick auf das Interesse. Er fragte sie nicht nach dem Grund ihres Scheiterns, und sie hütete sich, ihn zu verraten.


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Ihre Roswitha Kammerl